Drehtürpädagogik

Steigerung von (Beziehungs)kontinuität für die Kinder und Jugendlichen in vollstationären Einrichtungen versus Drehtürpädagogik

„Du bist zeitlebens für das verantwortlich,

was du dir vertraut gemacht hast“, sagte der Fuchs.

Antoine de Saint-Exupery (Der kleine Prinz)

 Präambel

Die Einrichtungen des Albert-Schweitzer-Familienwerks sind klein, überschaubar und von großer Beziehungskontinuität geprägt. Auf allen Ebenen herrscht ein großes Bewusstsein dafür, wie essentiell wichtig und heilend stabile persönliche Beziehungen für jeden Menschen sind. Auf der Grundlage dieser Erkenntnis wollen wir uns speziell mit dem Thema des Wechsels von Kindern und Jugendlichen in vollstationären Einrichtungen auseinandersetzen.

 Problembeschreibung

Im Albert-Schweitzer-Familienwerk gibt es ein steigendes Bewusstsein für die ungünstige Wirkung des Wechsels von Kindern und Jugendlichen zwischen verschiedenen Einrichtungen der Jugendhilfe und Psychiatrie (Drehtürpädagogik). Dabei ist der Wechsel in aller Regel an sich nachteilig, unabhängig davon, ob die neue Unterbringung eine „bessere“ oder „schlechtere“ Einrichtung ist. Es entsteht ein erneuter Beziehungsabbruch, zumindest aber ein Wechsel der Lebensgemeinschaft, in der das Kind oder der Jugendliche aufwächst. Nach der Herausnahme aus der Familie ist dies der nächste, vermutlich in einigen Fällen auch traumatisierende Bruch in der Lebensbiografie.

Unserer Meinung nach wird der wiederholte Wechsel von Kindern und Jugendlichen von einer Einrichtung der Kinder und Jugendhilfe oder auch Psychiatrie zur nächsten Einrichtung in Zukunft als ebenso schädigend für die seelische Entwicklung angesehen werden, wie wir es heute bei sexuellem Missbrauch und Gewaltanwendung in Einrichtungen bereits empfinden. Zur Dramatik für den Einzelnen und zur gesellschaftlichen Verbreitung des sexuellen Missbrauchs in kirchlichen und privaten sowie kommunalen vollstationären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren ein entsprechendes Bewusstsein in der Bevölkerung und bei den Fachkräften herausgebildet.

Wir vermuten, dass der Schaden der Drehtürpädagogik gesamtgesellschaftlich erst in etlichen Jahren gesehen werden wird. Unabhängig davon, ob sich diese Hypothese als richtig erweisen wird, sind wir zu der Ansicht gekommen, dass diese Wechsel der Kinder und Jugendlichen auf ein Minimum reduziert werden sollten.

Um dieses Ziel zu erreichen, haben wir im Familienwerk gemeinsam mit den Jugendämtern und der Heimaufsicht auf unterschiedlichen Ebenen Maßnahmen getroffen. Wir wollen damit die – plakativ als Drehtürpädagogik zu bezeichnende – Diskontinuität in den Lebensläufen der uns anvertrauten Kinder durch mehr Kontinuität ersetzen. Ausdrücklich wollen wir mit diesem Vorgehen und dieser Diskussion kein Dogma setzen, dass jeder Wechsel eines Kindes oder Jugendlichen in eine andere Einrichtung als Fehler oder Versagen zu bewerten ist. Es gibt mit Sicherheit auch gute Gründe und/oder die Notwendigkeit, im Einzelfall einen solchen Wechsel vorzunehmen.

Mit dem Begriff  Drehtürpädagogik bezeichnen wir einen immer schnelleren Wechsel der Kinder und Jugendlichen von einer Einrichtung in die nächste bis hin zur Psychiatrie. Es ist eine Abwärtsspirale der Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen in vollstationärer Unterbringung. Hintergrund dafür ist häufig die Überforderung der betreuenden Institution. Wenn Kinder und Jugendliche solches erleben müssen, kommt es dabei zwangsläufig zur Beziehungsdiskontinuität, was die Betreuungspersonen, die Spezialisten und die Peers an belangt. Daraus folgen fast unabwendbar eine Steigerung der Symptomatik bei den Kindern und Jugendlichen und eine verstärkte Überforderung der betreuenden Einrichtungen und damit eine Anfeuerung der Wechseltendenz.

Die Folgen dieser Entwicklung auf institutioneller Ebene ist einerseits die Steigerung der Kosten in den spezialisierten Einrichtungen, und andererseits die nicht zu unterschätzenden Auswirkungen der negative Ballung und Exklusion von „Problemfällen“ in den Institutionen.

Die Folgen auf der persönlichen Ebene der Kinder sind tiefgreifend. Beziehung aufbauen und halten ist für eine gesunde Entwicklung von Menschen sehr wichtig. Die Resilienzforschung zeigt, wie wichtig kontinuierlicher Kontakt ist. Eltern und ältere Geschwister, aber auch kontinuierliche andere Bezugspersonen, können viel dazu beitragen, dass ein Kind Resilienz entwickelt. Es kommt entscheidend darauf an, dass die emotionale Bindung zwischen Bezugsperson und Kindern gestärkt wird.

Daher wirkt sich der wiederholte Wechsel von Bezugspersonen sehr negativ auf die Entwicklung der Kinder aus. Auch der Erfolg von therapeutischen Prozessen hängt, so die Forschung (und die Erfahrung), in erheblichem Maße von der Qualität des Kontaktes und der Beziehung ab. Da Kontinuität und Verlässlichkeit wesentliche Bausteine von Beziehungen sind, funktionieren Pädagogik und Therapie am wirkungsvollsten auf dieser Grundlage. Diskontinuität und Abbrüche sind wesentliches Merkmal von „gescheiterten“, oft auch als brüchig bezeichneten Biographien.

EXKURS: Neben dem Wechsel von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen gibt es gerade im Heimbereich eine hohe personelle Fluktuation. Das betrifft in besonderem  Maße die Praktikanten und Mitarbeiter im Bundesfreiwilligendienst, aber auch die festen pädagogischen Mitarbeiter. Dieser Wechsel von Mitarbeitern in den Einrichtungen verstärkt den Effekt der Drehtürpädagogik und regt ihn auch indirekt mit an. Es entsteht dadurch auch eine größere Beliebigkeit der zusammenwirkenden Menschen, und es zeigt auch allen Beteiligten, dass man ja gehen kann, „wenn es einem nicht mehr passt“. Wir versuchen, diesem Mechanismus durch ein gutes Betriebsklima und bewusste Personalpflege entgegenzuwirken. Auch unsere Konzeption der innewohnenden Mitarbeiter ist darauf ausgelegt, Langfristigkeit in den Beziehungen (die oft über die professionelle Zeit hinausgehen) zu unterstützen.

Auch hier gilt: Es soll kein Dogma entstehen. Es kann viele gute persönliche, emotionale und fachliche Gründe geben, die die Suche nach einer anderen Arbeitsstelle geboten erschienenen lassen. Ich möchte damit allerdings ins Bewusstsein rufen, wieviel Unruhe auf der Beziehungsebene für die Kinder und Jugendlichen in Heimen einwirkt und das auf dem Hintergrund meist bereist enorm belasteter Beziehungserfahrungen.

Mögliche Ursachen/Hintergründe für einen Wechsel der Institution und des Umfeldes

Die Medizin gegen Drehtürpädagogik liegt sicher nicht darin, vom Jugendamt oder seitens der Einrichtungen zu beschließen, dass Wechsel von Kindern und Jugendlichen von einer zur anderen Institution zu unterbleiben haben. Das ließe unberücksichtigt, dass es in Einzelfällen gute Gründe für den Wechsel in eine andere Institution gibt, und dass dieser Wechsel bisher auch nicht leichtfertig praktiziert wurde. Vielmehr ist es interessant, sich darüber Gedanken zu machen, was die Hintergründe für die (zumindest für einige Kinder und Jugendliche) seit Jahrzehnten bestehende und bisher kaum als solche wahrgenommene Drehtürpädagogik sind.

Ein wesentlicher Hintergrund, warum die beschriebenen Wechsel immer wieder stattfinden, ist der, dass es, im Gegensatz zur „normalen“ Familie, überhaupt die Möglichkeit dazu gibt. Es hat gewissermaßen bereits mindestens einmal ein Dammbruch stattgefunden, in dem das Kind von der Ursprungsfamilie in ein anderes, institutionelles Umfeld gewechselt ist. Es gibt dadurch für alle Beteiligten die Erfahrung, dass ein Wechsel der gesamten Konstellation des Aufwachsens für das Kind oder den Jugendlichen möglich ist. Verstärkend kommt hinzu, dass im Umfeld der neuen Einrichtung sich ausschließlich Kinder und Jugendliche befinden, die ebenfalls fremdbetreut werden. Es besteht dadurch die Gefahr, dass sich eine Norm etabliert. Diese Norm heißt in etwa: Wenn es an einer Stelle zwischen einem Kind oder Jugendlichen und dem System, in dem es aufwächst, nicht klappt, gibt es eine (leicht verfügbare) Alternative.

Zweitens lässt sich feststellen, dass spätestens durch den ersten Wechsel eines Kindes oder Jugendlichen in eine Einrichtung die Erfahrung von Beziehungsabbruch und Diskontinuität gemacht wird. Die Einbindung in institutionellen Einrichtungen ist etwas ganz anderes als die Bindung in der Familie an Vater, Mutter und Geschwister. Sie wird fast zwangsläufig deutlich weniger eng sein, als die Bindung in der Ursprungsfamilie. Das kann in der Konsequenz dazu führen, dass aufgrund der von allen Seiten weniger intensiv erlebten Bindung in problematischen Phasen, von welcher Seite auch immer empfunden, leichter an eine Trennung gedacht und in der Folge auch umgesetzt wird. Man „lernt“ sozusagen, dass ein Beziehungsabbruch möglich ist, was auf einer bestimmten Ebene natürlich nicht stimmt, denn innerlich besteht die Bindung immer noch, auch wenn sie äußerlich nicht mehr existiert.

Von wem geht die Initiative zum Wechsel aus?

Initiatoren und Beteiligte beim Wechsel von einer Institution in eine andere sind immer mindestens das fallführende Jugendamt, das Kind oder der Jugendliche, die Eltern (Sorgeberechtigten) und die Mitarbeiter der Institution. Jede der vier genannten Parteien kann eine Initiative zum Wechsel ergreifen. Die Motivationen dazu können sehr unterschiedlich sein. Der Auslöser für die Überlegungen zu einem Wechsel liegt oft darin, dass sich mindestens eine der vier Parteien außerhalb seines bisherigen Gleichgewichtes befindet.

1.      Auf der Ebene des Jugendamtes kann das ein Wechsel bei dem fallführenden Mitarbeiter sein, oder die Unzufriedenheit mit der objektiv oder subjektiv belegbaren Entwicklung des Kindes und Jugendlichen oder der Institution.  Eine Ursache für eine Verlegung ist häufig eine Änderung der Diagnose oder/und des Hilfebedarfs im Laufe der Heimunterbringung. Manchmal wird diese veränderte Diagnose oder des Hilfebedarfs auch ohne die Absicht einer Verlegung festgestellt und führt dann zu einer solchen ohne, dass die weiteren Auswirklungen eines Wechsels noch einmal reflektiert werden. Mit der Überlegung zum Wechsel geht dann meist die Vorstellung und Hoffnung einher, dass eine andere, spezialisierte Institution, mit dem (schwierigen) Kind oder Jugendlichen besser zu Recht kommen würde. Man geht also davon aus, dass ein Wechsel zu einer Verbesserung und nicht vielmehr zu einer Verschlechterung führt.

2.      Kinder und Jugendliche geraten häufig während der Pubertät aus dem Gleichgewicht. Kinder und Jugendliche fühlen sich auch häufig ungerecht behandelt und gelangen (wie auch in einer Familie) zu der Auffassung, dass es woanders für sie bessere, gerechtere und insgesamt angenehmere Rahmenbedingungen gibt. Darüber hinaus gehört es zu einer gesunden pubertären Entwicklung, dass die nach außen drängenden, zentrifugalen Kräfte zunehmen. In einer Jugendhilfeeinrichtung besteht dann leichter die Möglichkeit, diesem Drängen und Fordern eines Jugendlichen auch dadurch nachzugeben, dass man ihn in eine andere Institution, beispielsweise eine Jugendwohngruppe, ziehen lässt. Sicher kann das im Einzelfall auch richtig und gut sein. Ich bin allerdings der Meinung, dass gerade auch für die Jugendlichen, die hin und her geworfen sind zwischen zentripetalen und zentrifugalen Kräften, ein Halten in der Geborgenheit einer vertrauten Einrichtung die nötige Sicherheit gibt, um später gefestigt und gereift nach außen zu treten.

3.      Die Eltern, bzw. Sorgeberechtigten der in Heimen untergebrachten Kinder und Jugendlichen waren nicht in der Lage ihren Kindern einen entsprechenden Rahmen zu bieten, die ein gesundes Aufwachsen ermöglichen. Trotzdem fällt es ihnen manchmal schwer zu akzeptieren, dass das Kind fremduntergebracht ist. In der Folge sind sie häufig bereit, manchmal auch gerade, wenn sich das Kind richtig etabliert hat, das sprichwörtliche „Haar in der Suppe“ der neuen Unterbringung zu finden und daraus eine Initiative zum Wechsel abzuleiten oder eine solche zu unterstützen.

4.      Auf der Seite der pädagogischen Einrichtung ist es meist die Überforderung und Hilflosigkeit der Institution, namentlich meist der Mitarbeiter, mit dem Verhalten eines bestimmten Kindes oder Jugendlichen, die zu der Überlegung führt, ein Kind oder einen Jugendlichen in einer anderen Institution unterzubringen. Gerade aufsässige, launige und aggressive Jugendliche bringen pädagogische und therapeutische Mitarbeiter häufig an ihre Grenzen. Je stärker ein Team ist, umso eher kann es mit solchen Situationen adäquat umgehen. Häufiger Personalwechsel, Personalmangel, Burnout, unzureichende Unterstützung und Rückendeckung durch die Leitungsebene und den Träger schwächen die Kraft des Teams und häufig auch der einzeln Mitarbeiter.

Insgesamt lässt sich sagen, dass häufig mehrere Ursachen oder Wirkkräfte zusammenkommen, bis es zu einem Wechsel in eine andere Institution kommt. Manchmal bilden sich dann auch Koalitionen zwischen Partnern, die eher als unproduktiv zu bezeichnen sind. Dabei lässt sich an alle möglichen Koalitionen denken, die sich zum Teil gegenseitig oder einseitig instrumentalisieren.

Wege zur Vermeidung von Drehtürpädagogik

Wollen wir höhere Kontinuität für die uns anvertrauten Kindern und Jugendlichen in unseren Einrichtungen erreichen, ist der erste Schritt ein Bewusstsein für die elementar positive Wirkung hoher Beziehungskontinuität bei allen Beteiligten zu wecken oder zu verstärken, so dieses noch nicht vorhanden sein sollte. Wichtig ist es in dem Zusammenhang alle bereits beschriebenen Akteure mit einzubeziehen, da jeder mit unterschiedlicher Intensität und Wirkkraft in die eine oder andere Richtung aktiv werden kann.

An erster Stelle stehen dabei die Mitarbeiter im Albert-Schweitzer-Familienwerk. Hier besteht ein hohes Einvernehmen, das es sich lohnt, diesen Weg miteinander zu gehen. Diese grundsätzliche Erkenntnis wird im Zusammenhang mit dieser Konzeption gestärkt und es werden Möglichkeiten der Umsetzung aufgezeigt.

Konkrete Maßnahmen:

Das Thema soll mit allen weiteren Beteiligten regelmäßig besprochen und diskutiert werden. Bereits im Aufnahmeprozedere, und später im Rahmen des Hilfeplanverfahrens und der Hilfeplangespräche, soll die Thematik Drehtürpädagogik wichtiger Teil der Vereinbarung zur Zusammenarbeit sein.

Im Rahmen des Aufnahmeprozederes muss den Partnern vermittelt werden, dass die Kinderdorfeinrichtungen, Kleinheime und Erziehungsstellen, die wir anbieten, für längerfristige Unterbringungen spezialisiert sind. Das schließt auch mit ein, dass wir bereit sind, mit den Aufgenommenen durch Krisen zu gehen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Es muss also gemeinsam geklärt werden, dass wir uns zum Thema Drehtürpädagogik verständigt haben. Auf Seiten des Albert-Schweitzer-Familienwerks muss erwogen werden, ob der Rahmen, den wir für das spezielle Kind oder den Jugendlichen bieten, mit dessen Bedürfnissen und Problemlagen in Übereinklang zu bringen ist. Dabei ist auch darauf zu achten, dass die Institution, und damit im Wesentlichen die darin arbeitenden Mitarbeiter, voraussichtlich in der Lage sein werden, mit dem einzigartigen, zur Aufnahme anstehenden Menschen auch dauerhaft zurechtzukommen.

Ist die Aufnahme aus Sicht des Trägers möglich und sinnvoll, soll im Idealfall mit allen Beteiligten vor der endgültigen Aufnahme und Zusage erarbeitet werden, wie wichtig die Beziehungskontinuität im Rahmen der Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe ist. Dabei dienen die oben gemachten Ausführungen inklusive der Ergebnisse der Resilienzforschung als inhaltliche und argumentative Grundlage.

Auf der Basis der mündlichen Übereinkunft bei der Aufnahme sollen auch im Rahmen der folgenden Hilfeplangespräche und deren schriftlicher Dokumentation, das Thema, „Mechanismen zur vorzeitigen Entlassung aus Einrichtungen“, vertieft werden. Daraus soll einerseits ein gemeinsames Bewusstsein entstehen und anderseits auch Übereinkünfte, wie bei sich abzeichnendem drohendem vorzeitigem Abbruch der Maßnahme miteinander umgegangen und in der Sache Verfahren werden soll.

Die Haltung, die für alle zum Ausdruck kommen soll, ist die: „Das Kind gehört (vorübergehend) zu uns und wir stehen notfalls alles (gemeinsam) durch. “Vorübergehend“, weil natürlich auch ein sinnvoller und geplanter Wechsel im Rahmen jeder Maßnahme intendiert ist und sich Verhältnisse auch so ändern können, dass ein Wechsel auch vor der ursprünglich geplanten Zeit sinnvoll und von allen getragen sein kann. „Alles Durchstehen“, meint auch Krankheiten, psychiatrische Episoden, Suizidgedanken etc. Gerade da entscheidet sich, was „gemeinsam“ heißt. Da ist dann auch die Kooperation mit allen Beteiligten gefragt, bis hin zum gemeinsamen Tragen der Verantwortung und der finanziellen Aspekte, die den Träger und das Jugendamt treffen können.

Unterstützung der Mitarbeiter:

Zur Vermeidung von Abbrüchen in der Kinder und Jugendhilfe gilt es, besonders die Mitarbeiter, die in direktem, täglichem Kontakt mit den Kindern und Jugendlichen stehen, zu unterstützen. Dies hat in zweierlei Hinsicht Bedeutung. Zum einen können die Mitarbeiter Initiatoren oder mindestens Mittragende für ein vorzeitiges Ende der Maßnahme sein, und zum anderen können Sie auch diejenigen sein, die eine Einrichtung, und damit die Kinder und Jugendlichen, vorzeitig nach wenigen Jahren verlassen.

Beides kann mit Überforderung und Überlastung in Zusammenhang stehen. Von daher ist es auch wichtig, dafür Sorge und Mitverantwortung zu tragen, dass die Mitarbeiter nicht überfordert werden oder sich selbst überfordern. Arbeiten sie zu lange mit schwierigem oder schwierigstem Klientel, ohne die dafür erforderlichen personellen Ressourcen (d.h. auch finanzielle Ressourcen) zur Verfügung zu haben, kann das zu einem „Ausbrennen“ führen.

Zum Beispiel werden eskalierende, gewalttätige Situationen oft als besonders belastend erlebt. Um dies besser handhaben zu können, werden die pädagogischen Mitarbeiter im Rahmen eines Deeskalationstrainings geschult. Das erweitert die persönlichen Handlungsmöglichkeiten. Je nach Klientel in der Einrichtung kann auch ein Training zum Umgang mit körperlicher Gewalt angezeigt sein. Das kann die Selbstsicherheit der Betreuenden erhöhen und soll die Möglichkeit der gezielten (körperlichen) Intervention erweitern.

Oft lässt sich ein Konsens zwischen allen Beteiligten erzielen, dass eine Überlastung mit der Folge des Wechsels nur gemeinsam verhindert werden kann. In begründeten Einzelfällen sind Jugendämter durchaus bereit, zusätzliches Personal zu gewähren und damit auch zu finanzieren. Solche Einzelfälle liegen in der Regel dann vor, wenn ein Klient einen deutlich erhöhten Betreuungsbedarf hat, z.B. auf dem Hintergrund von Erkrankungen (körperlicher wie psychischer) oder aufgrund von extrem unangepasstem und aggressivem Verhalten. Das Albert-Schweitzer-Familienwerk muss dann, gemeinsam mit den beteiligten Kostenträgern und Entscheidern erörtern, welche Maßnahmen eine Überforderung verhindern oder gar beenden kann.

Insgesamt, und das lässt sich hier nur erwähnen, obwohl es ein wichtiger und zentraler Punkt ist, spielt die Mitarbeiterpflege eine wesentliche Rolle. Dazu wird im Albert-Schweitzer-Familienwerk sehr viel getan. Die Achtung vor der immensen Leistung der Mitarbeiter ist über alle Ebenen hinweg sehr hoch. Es wird auf unterschiedlichsten Ebenen auf deren Wohlergehen geachtet.

Ein weiterer Ansatz zur Vermeidung des ungeplanten vorzeitigen Wechsels ist, wie schon erwähnt, die Schaffung von Bewusstheit über dieses Phänomen bei allen Beteiligten. Gerade pubertierende Kinder und Jugendliche suchen häufig die Konfrontation und wollen aus der empfundenen Enge der gegebenen Strukturen ausbrechen. Ein Ansatzpunkt aus deren Sicht ist es dann, einen Wechsel aus der Einrichtung anzustreben. Oft wird phantasiert, dass es woanders besser, „cooler“ und damit ungezwungener zugeht. Wenn sich dann Verbündete bei den Sorgeberechtigten, im Jugendamt oder auch bei den Betreuenden finden lassen, denen es z.B. „reicht“, oder die sich auch aus fachlichen Gründen für die Verselbständigung in einer Jugendwohngruppe einsetzen, können Jugendliche „ihr Ziel“ erreichen. Die Beteiligten müssen sich vergegenwärtigen, dass das Schimpfen über die Einrichtung und die Betreuenden, eine häufig vorkommende Übergangsphase darstellt. Eben da helfen präventive Kommunikation, klare Absprachen und ein Bewusstsein, über die häufig zu beobachtenden, zugrundeliegenden Mechanismen.

Auch auf Mitarbeiterebene wird die Phase der Pubertät der Heranwachsenden mit all den Gefühlsschwankungen und auch ablehnend-aggressivem Verhalten als sehr belastend erlebt. Da kann der Wunsch nach einer Trennung von diesem Bewohner des Hauses schon auftauchen. Diese Gedanken sind nachvollziehbar und legitim, mit  einer entsprechenden Auseinandersetzung mit dem Thema und fachlicher Unterstützung wie Supervision können diese Klippen besser umschifft werden.

Ein anderer Aspekt ist die Sicherheit der anderen in der Einrichtung lebenden Kinder und Jugendlichen sowie der Mitarbeitenden vor Aggression und Gewalt. Es gibt keine absolute und andauernde Sicherheit, und doch muss es ein großes Maß an Sicherheit für alle Beteiligten geben. Dazu gehört auch die Frage,  wie mit suizidalen Kindern und Jugendlichen umgegangen werden soll. Es kann nie mit Sicherheit ein Suizid ausgeschlossen werden. In solchen und vergleichbaren Situationen ist es dringend erforderlich, das verbleibende Risiko mit allen Beteiligten, bis hin zur Heimaufsicht, zu erörtern, die Situation abzuschätzen und zu einer verantwortlichen Entscheidung zu kommen.

Alternativen zur Drehtürpädagogik

Wie beschreiben gibt es durchaus nachvollziehbare Gründe, die einen zu der Überlegung führen können, das Kind oder den Jugendlichen in eine andere Einrichtung abzugeben. Manchmal ist der Druck von allen Seiten sehr hoch. In so einer Situation zeigt sich dann auch, ob die Bereitschaft und die Kreativität bestehen, nach Alternativen zu suchen und diese zu finden. Dazu sollte möglichst bereits vor der Krise der Boden bereitet sein.

Durchhalten

Die Alternativen zur Drehtürpädagogik heißen durchhalten, durchhalten, durchhalten und das, ohne in eine Überforderung oder in eine Opferrolle zu geraten. Das geht manchmal mit den vorhandenen Ressourcen.  Manchmal braucht es weitere Unterstützung, oft in Form personeller Aufstockung. Diese zusätzliche Aufstockung muss finanziert werden. Das Albert-Schweitzer-Familienwerk ist bereit, in kurzfristigen Krisensituationen diesbezüglich auch in Vorleistung zu gehen. Diese Möglichkeit besteht, allerdings nur zeitlich begrenzt, und auch nur dann, wenn die Perspektive besteht, dass es sich nur um eine kurzfristige  Krise  handelt oder/und das Jugendamt bereit ist, die Kosten zu tragen.

Neben dem pädagogischen Anspruch ist das für die Jugendämter auch aus kostentechnischer Sicht häufig eine attraktive Möglichkeit. Der Wechsel eines Kindes aus einer Einrichtung zur nächsten, vor dem Hintergrund einer Krise, führt in der Regel zu einer spezialisierteren und damit meist auch kostspieligeren Unterbringung. Durch eine, meist vorübergehende, Vereinbarung zur Aufstockung des Personals, kann die Entstehung einer Kostenspirale verhindert werden.

Wichtig erscheint es mir,  an dieser Stelle noch deutlich zu machen, dass die Überlegungen, die hier angestellt werden, nicht vor dem Hintergrund einer besseren Auslastung unserer Einrichtungen gemacht werden, sondern wir im Gegenteil bereit sind, uns über das normale Maß hinaus inhaltlich und finanziell zu engagieren. Die Anfragesituation und die Auslastung der Einrichtungen im Albert-Schweitzer-Familienwerk sind kontinuierlich so hoch, dass wirtschaftliche Überlegungen keine Rolle bei der hier beschriebenen Konzeption spielen.

Gezielt vorübergehende Unterbringung

Eine weitere Alternative zur Drehtürpädagogik ist die gezielte, vorübergehende Unterbringung in einer anderen Einrichtung. Wichtig ist dabei allerdings, dass allen Beteiligten der vorübergehende Charakter der Maßnahme sehr bewusst ist und die damit einhergehenden Implikationen auch einhergehen. Das heißt im Wesentlichen, dass der Herausgenommene regelmäßig besucht wird und darauf  hingearbeitet wird, ihn wieder in der ursprünglichen Einrichtung unterzubringen. Eine solche vorübergehende anderweitige Unterbringung kann unter unterschiedlichen Aspekten angezeigt sein. Im Wesentlichen kann diese „Fremdunterbringung“ aus diagnostischen Gründen oder zum Zweck der aktuellen Entlastung nötig sein.

Erfolgsdruck reduzieren

Ein anderer Gesichtspunkt ist es, den Erfolgsdruck der Erzieher zu reduzieren. Es hilft dabei, wenn man in den Hilfeplänen wirklich realistische Ziele setzt. Das ist sicher eine Binsenweisheit, kann aber in der Konsequenz dazu führen, dass die Messlatte nicht zu hoch gehängt wird und zum Beispiel auch allein das Halten der Beziehung das vorrangige Ziel ist – und nicht etwa das Erreichen eines Schulabschlusses.

Die Mitarbeitenden sind darin zu unterstützen, dass sie das Kind so annehmen, wie es jetzt gerade ist. Es gilt, nur ein gewisses Maß an Veränderung zu erwarten, auch Pausen in der Entwicklung zuzulassen und dabei eine positive, zugewandte und annehmende Haltung einzunehmen. Zu hohe Erwartungen erhöhen die Unzufriedenheit und den Erfolgsdruck.

Diese eben beschriebene Haltung der Akzeptanz und Zugewandtheit sollte in jedem Mitarbeiter selber vorhanden sein- und zwar vor allem sich selbst gegenüber. Eine solche Grundhaltung vermindert den persönlichen psychischen Druck ebenfalls. Denn die Erziehenden in den Einrichtungen werden stets auch kritisch beobachtet. Angefangen von den Kollegen über die unmittelbaren und weiteren Vorgesetzten hin zu den Eltern und Verwandten sowie den beteiligten Institutionen wie Jugendämtern, Schulen, Vormünder und Heimaufsicht.

Und um an dieser Stelle den Druck noch etwas abzuschwächen, sei noch einmal darauf hingewiesen, dass ein Wechsel in eine andere Einrichtung auch angezeigt sein kann. Dann sollte das in dem Wechsel steckende Potential auch allen Beteiligten positiv und klar kommuniziert werden. Die Kinder und Jugendlichen können dazu ermutigt werden, mit dem Wechsel kreativ umzugehen, neue Perspektiven zu entwickeln und dies auch als Chance zu verstehen.

So widersprüchlich das auch klingen mag, diese Offenheit kann dazu führen, dass sich auch eine neue, alternative Perspektive entwickelt. Daraus entsteht auch Entlastung und kann in manchen Fällen auch das Weitermachen und Durchhalten ermöglichen.

Zusammenfassung

Die hier niedergeschriebenen Überlegungen basieren auf jahrzehntelanger Erfahrung und praktischen Beobachtungen sowie wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die sozial-emotionalen sowie intellektuellen und körperlichen Folgen des Erlebens dauernder Beziehungsabbrüche, mit der Variante des Hospitalismus, sind hinlänglich bekannt und wissenschaftlich belegt. Das „Gegengift“, die Beziehungskontinuität, ist nicht erst durch die Resilienzforschung und die aktuelle Bindungsforschung bekannt. Leider ist diese Arznei nicht immer verfügbar und auch nicht erzeugbar. Es ist lediglich ein Wunsch und eine Anregung, sich auf die Suche danach zu machen. Die Erfüllung dieses Wunsches hängt von vielen Gegebenheiten ab, und nicht zuletzt vom großen Engagement der einzelnen Menschen.

Ich bin davon überzeugt, dass wir bezüglich heilender Beziehungskontinuität gemeinsam mit unseren Partnern in den Jugendämtern, der Heimaufsicht und nicht zuletzt der Eltern viel erreichen können. An dieser Stelle muss aber nicht das Rad neu erfunden werden, es ist lediglich notwendig, die Aufmerksamkeit auf die entscheidenden Erkenntnisse zu lenken und die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Damit kann vielen Kindern in Heimen geholfen und deren Sozialprognose deutlich verbessert werden. Nicht zuletzt ist zu erwarten, dass auch die Zufriedenheit der Mitarbeiter mit dem Erreichten steigt. Es steckt ein ganzes Stück Mühe dahinter, mit den uns anvertrauten Kindern- und Jugendlichen durch das sprichwörtliche „Dick und dünn“ zu gehen.

 „Du bist für mich noch nichts als ein kleiner Knabe, der hunderttausend Knaben völlig gleicht. Ich brauche dich nicht, und du brauchst mich ebenso wenig. Ich bin für dich nur ein Fuchs, der hunderttausend Füchsen gleicht. Aber wenn du mich zähmst, werden wir einander brauchen. Du wirst für mich einzig sein in der Welt. Ich werde für dich einzig sein in der Welt . . .“

Antoine de Saint-Exupery (Der kleine Prinz)

ANLAGE

Unsere Maßnahmen

1.      Aufklärung der Mitarbeiter über die Problematik „Drehtürpädagogik“ 

Sensibilisierung für eigenes und fremdes Verhalten

2.      Aufklärung der Jugendämter über die Problematik „Drehtürpädagogik“  

Schließen einer mündlichen Übereinkunft im Rahmen des Hilfeplanverfahrens

3.      Aufklärung der Kinder und Jugendlichen sowie deren Eltern über die Problematik „Drehtürpädagogik“  

Schließen eines mündlichen oder schriftlichen Kontraktes bzw. einer Übereinkunft im Rahmen des Hilfeplanverfahrens

4.      Umsetzung: Einführung auf Mitarbeiter Ebene

Zunächst soll in den Jahren 2014/15 in allen Teams der Einrichtungen eine Einführung dieser Handlungsleitlinie durch den Geschäftsführenden Vorstand und den Bereichsleiter stattfinden. Darüber hinaus wird im Rahmen des Jahrestreffens 2015 ein dreistündiger Workshop zu dem Thema „Maßnahmen zur Vermeidung von Drehtürpädagogik“ im Albert-Schweitzer-Familienwerk“ veranstaltet.

5.      Auswahl und Pflege der Mitarbeiter

Ansprechen in Vorstellungsgespräch = Kontinuität ist wichtig

Ansprechen in Mitarbeitergespräch = Wie ist die Kraft, wie die Stimmung in der Arbeit

Gemeinsam für Erholung, Entlastung und Motivation der Mitarbeiter sorgen

6.      Deeskalationstraining

Jedes Team im Bereich vollstationäre Kinder- und Jugendhilfe im Albert-Schweitzer-Familienwerk macht in den Jahren 2015/16 eine Fortbildung zur Deeskalation.

7.      Regelmäßiges Teamthema

Die Bereichsleitung  thematisieren bei ihren regelmäßigen Terminen, wie sich die zentripetalen Kräfte stärken lassen, wie der Stand der persönlichen Kräfte bei den einzelnen Mitarbeitern ist und wo sich gerade starke zentrifugale Kräfte zeigen.

Auch im Rahmen der Supervision können die zentrifugalen und zentripetalen Kräfte Thema sein.

8.      Überprüfung durch Geschäftsführungs- & Bereichsleitungstreffen

Zweimal jährlich soll in Geschäftsführungs- & Bereichsleitungstreffen eine Abklärung anstehender Fragen zur beschriebenen Thematik stattfinden und gegebenenfalls weitere Schritte besprochen werden. Neben der Frage der Weiterentwicklung im Generellen wird auch nach Einzelfällen gesucht, in denen besonderer Handlungsbedarf erscheint, oder aus denen Lehren gezogen werden können.

9.      Textpassage für die Konzeption

In unseren jeweiligen Konzeptionen befindet sich ein Abschnitt, in dem explizit auf die Thematik der zentrifugalen und zentripetalen Kräfte hingewiesen wird.

Die Konzeption ist allen Erwachsenen, deren Kinder und Jugendliche – in welcher Einrichtungsform auch immer – im Albert-Schweitzer-Familienwerk betreut werden, in ausgedruckter Form zugänglich und für jeden im Internet als PDF erhältlich.

10.  Krisenmanagement

Siehe “Handlungsleitlinie Kindswohlgefährdung