Sexualpädagogik in vollstationären Einrichtungen

Geboren werden und Sterben sind Beginn und Ende unserer Existenz. Dazwischen liegt, gewissermaßen auf der biologischen Ebene, Sexualität mit der Möglichkeit, Leben zu schaffen. Weil es so ein wichtiger und existenzieller Bereich des Menschen ist, sollten wir mit ihr verantwortungsvoll, aufmerksam und behutsam umgehen. Sexualität ist neben der körperlichen Komponente auch eine tiefe geistige und emotionale Erfahrung. Die meisten – wenn nicht alle – der Kinder, die wir in unseren vollstationären Einrichtungen betreuen, haben schwierige Erfahrungen mit ihren engsten Bezugspersonen machen müssen. Diese Erfahrungen waren so schwerwiegend, dass eine Fremdunterbringung angezeigt war. Nicht wenige der Kinder waren bereits in verschiedener Form und Intensität negativen Erfahrungen im Bereich Sexualität ausgesetzt. Viele der Kinder haben diese negativen Erfahrungen in ihren Lebensplan verankert, sie machen den Zugang zu einem natürlichen Erleben ihres Körpers und einer gesunden Identitätsfindung schwierig. In vollstationären Jugendhilfe­einrichtungen ist es daher notwendig, den Kindern und Jugendlichen einen positiven Zugang zu sich selbst, anderen Menschen und auch der Sexualität zu ermöglichen. Dabei ist es von besonderer Bedeutung, die Kinder und Jugendlichen in unseren Einrichtungen vor (weiteren) sexuellen Übergriffen durch Erwachsene und auch durch andere Kinder und Jugendliche zu beschützen. Kinder und Jugendliche in vollstationären Einrichtungen sind aufgrund ihrer Vorerfahrungen besonders für frühe und unangemessene sexuelle Erfahrungen und Handlungen gefährdet. Daher kann es leichter zu einer problematischen sexuellen Entwicklung und einer mangelnden Fähigkeit zu befriedigenden und passenden Beziehungen kommen. Wir wollen den Kindern vermitteln, dass sie wertvoll und einzigartig sind und dass sie hier bei uns liebevoll und respektvoll behandelt werden. Erst wenn sie selbst ein Gefühl dafür haben, wertvoll zu sein, können sie auch wertschätzend mit anderen Menschen umgehen. Dies ist eine der Grundlagen für ein ausgereiftes und befriedigendes Leben als sexuelles und liebendes Wesen in der Begegnung mit anderen sexuellen und liebenden Wesen.

Handlungsleitlinien

Wir sind der Meinung, dass körperliche Nähe und Zuwendung unabdingbar für eine gesunde und stabile psychische Entwicklung eines jeden Menschen sind. Von daher begrüßen wir es, wenn die Erziehenden den anvertrauten Kindern auf angemessene Weise Körperkontakt anbieten. Selbstverständlich muss der Erwachsene aufmerksam und reflektiert handeln, um keine falschen, sexualisierenden Signale zu senden und um die eigenen Grenzen und die des Kindes zu spüren. Dies ist eine der wichtigsten Grundlagen unserer Arbeit: achtsames Wahrnehmen der eigenen Emotionen, Empfindungen und Motive – und der des anderen. Zur Reflexion haben wir regelmäßige Fortbildungen und legen auch im Alltag sehr großen Wert auf Selbsterfahrung und Offenheit. Die körperliche Nähe durch Berührungen und Umarmungen und die emotionale Nähe durch Zuwendung und Gespräche muss respektvoll und der jeweiligen Situation, dem Lebensalter und der geistigen Entwicklung angemessen sein.

Verhaltensrichtlinien für Erwachsene  

  • Im Umgang mit den uns anvertrauten Menschen wird größtes Augenmerk auf reflektiertes und bewusstes Handeln gelegt. Die Mitarbeiter werden darin geschult, ihre eigenen Emotionen wahrzunehmen, ihr Handeln zu überdenken und eine offene Kommunikation über alle Ebenen hinweg zu führen.
  • Eine besondere, einmalige und persönliche Beziehung zu jedem einzelnen Kind ist eine Chance für alle Beteiligten. Gleichzeitig muss die Beziehung so gestaltet sein, dass jederzeit klar ist, dass der Mitarbeiter in einer professionellen Rolle ist, aus welcher Haltung heraus er handelt und welche Erwartungen und Wünsche des Kindes erfüllbar sind und welche nicht. Falls sich eine Beziehung zwischen einem Betreuer und einem Kind entwickelt, die über den üblichen Rahmen der Einrichtung hinausragt oder eine besondere Nähe erkennen lässt, wird dies im Team transparent gemacht, mit der Teamleitung und der Bereichsleitung besprochen. Gemeinsam wird das weitere Vorgehen geplant.
  • Besuche der Kinder bei Mitarbeitern in deren privaten Räumen oder/und in der Freizeit sind grundsätzlich möglich und – je nach Situation – auch willkommen, erfordern aber ein besonderes Maß an Reflexion und vorheriger Abstimmung im pädagogischen Team.

Es gibt einen offenen Informationsaustausch über folgende Themen:

  • Wer erhält Massagen?
  • Welche Behandlung benötigt ein Kranker?
  • Mit wem wurden Themen sexueller Aufklärung besprochen?
  • Welche Kinder oder Jugendliche suchen in auffälliger Weise körperliche Nähe?
  • Einmal jährlich wird durch den Schutzbeauftragten nach § 8a des Albert-Schweitzer-Familienwerks ein ausführliches Teamgespräch zum Thema „Schutz der Kinder vor internen und externen Übergriffen“ angeleitet. Zu dem Thema „Schutz der Kinder vor Übergriffen durch Erwachsene“ gibt es eine gesonderte Handlungsleitlinie unter dem Titel: „Grenzen wahrender Umgang“.
  • Kommt es zu einschlägigen sexuellen Kontakten von Kindern und Jugendlichen die miteinander in einer Lebensgemeinschaft leben, wird dies von uns in der Regel nicht geduldet. Es wird dann gemeinsam, auch mit Sorgeberechtigten und Jugendämtern, nach Lösungen gesucht.
  • Unter dem Titel „Verdacht auf Kindeswohlgefährdung“ gibt es im Albert-Schweitzer-Familienwerk eine Handlungsleitlinie (zu finden in „Gut zu wissen“), die in entsprechenden Fällen Anwendung findet.

Verhaltensrichtlinien für Kinder und Jugendliche

  • Sexualität ist grundsätzlich etwas Positives. Gleichzeitig ist es auch ein sehr sensibles Thema. Neben Lust und Leidenschaft gehören auch Verantwortung und Wissen dazu.
  • Einschlägige sexuelle Kontakte von Kindern und Jugendlichen, die miteinander in einer Lebensgemeinschaft leben, werden von uns nicht geduldet.
  • Kontakte mit deutlich sexueller Note sind in unseren Einrichtungen Jugendlichen frühestens ab 14 Jahren erlaubt. Übernachtungen von möglichen Geschlechtspartnern in den Zimmern sind frühestens ab 16 Jahren möglich und nur nach pädagogischer und therapeutischer Abwägung und Erlaubnis durch den Sorgeberechtigten, das Jugendamt sowie das pädagogische Team.
  • Es gibt klare Verbote für die Unterdrückung anderer, beleidigende sowie herablassende Ausdrucksformen.
  • Es wird zwischen guten und schlechten Geheimnissen unterschieden.
  • Die Intimsphäre für die Kinder und Jugendlichen z.B. im Bad und Zimmer ist uns wichtig, wird unterstützt und soweit möglich auch gewährleistet.
  • Den Kindern und Jugendlichen werden interne und externe Ansprechpartner genannt, an die sie sich in Not wenden können, bis hin beispielsweise zur Polizei und der Heimaufsicht.

Schlussbemerkung

Sexualpädagogik und der Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Übergriffen jeglicher Art durch Erwachsene oder andere Kinder und Jugendliche innerhalb und außerhalb unserer Einrichtungen hängen eng miteinander zusammen.
Es geht immer darum, den Kindern und Jugendlichen zu vermitteln, dass sie selbst wertvolle Wesen sind, die umgeben sind von anderen, ebenfalls wertvollen, Mitmenschen. Diese Sichtweise widerspricht teilweise den konkreten vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungen der uns anvertrauten Menschen. Umso wichtiger ist es auf der Grundlage einer wertschätzenden und offenen Atmosphäre im Albert-Schweitzer-Familienwerk den Kindern zu vermitteln, was auf der Verhaltensebene in unserer Gesellschaft als angemessen und als unangemessen gilt. An der Stelle soll noch einmal betont werden, dass die konkreten Verhaltensregeln für den Umgang miteinander unabdingbar in eine Kultur im Albert-Schweitzer-Familienwerk eingebunden sein müssen, die über alle hierarchischen Ebenen hinweg von dem Streben nach einem ehrlichen, menschlichen und zugewandten, jeden einzelnen Menschen wahrnehmenden Klima geprägt ist.

Hinweis auf Gender-Schreibweise: Wegen der einfacheren Lesbarkeit wird hier nur die männliche Schreibweise verwendet. Es sind jedoch immer auch die weiblichen Mitarbeiterinnen mit einbezogen.