Grenzen wahrender Umgang

Im Zusammenhang mit den Vorfällen von Gewalt und sexuellen Übergriffen in Einrichtungen der Kirchen und von freien Trägern wurden wir mehrfach auf unsere Maßnahmen hinsichtlich dieser Thematik angesprochen. Dieses Interesse an unserem Verfahren und unserer Haltung haben wir zum Anlass genommen, diese schriftlich zusammenzufassen. Die Implementierung von strukturellen Rahmenbedingungen durch die Entwicklung von präventiven Strategien und die Qualifizierung von Fachkräften für einen Grenzen wahrenden Umgang hatte im Wesentlichen zwei Ziele. Zum einen sollten die uns anvertrauten Kinder vor Kindeswohlgefährdung durch Mitarbeiter1 geschützt werden. Darüber hinaus ist es ein Ziel, Mitarbeiter vor ungerechtfertigtem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung in der jeweiligen Einrichtung zu schützen.

Mit der Einführung des § 8 a SGB VIII – Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung – ist die Einbeziehung einer „insoweit erfahrenen Fachkraft zur Abschätzung des Gefährdungsrisikos“ verpflichtend geworden (§ 8 a SGB VIII, Abs. 2). Das Albert-Schweitzer-Familienwerk hat dies zum Anlass genommen, sich auch mit möglichen Gefährdungen innerhalb der Institution auseinander zu setzen. Ausgehend von den Erkenntnissen aus den Fallbearbeitungen von sexuellem Missbrauch an Mädchen und Jungen der letzten 20 Jahre haben Experten auch auf die Tatsache des „Institutionellen sexuellen Missbrauchs“ hingewiesen, also auf Missbrauchshandlungen durch Mitarbeiter, vor allem im stationären Kinder- und Jugendhilfebereich und bei Freizeitmaßnahmen. Das Albert-Schweitzer-Familienwerk hat sich zum Ziel gesetzt, Gewalt und Missbrauch sowie Vernachlässigung in jeder Form in den eigenen Einrichtungen zu verhindern. Die uns anvertrauten jungen Menschen sollen möglichst sicher in den Einrichtungen des AlbertSchweitzer-Familienwerks untergebracht sein. Zur Erfüllung unseres Schutzauftrags arbeiten wir mit der erfahrenen und kompetenten Fachkraft Christine Klein, Dipl.-Soz.-Pädagogin (FH) zusammen. Christine Klein ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle FENESTRA zur Prävention von sexueller Gewalt an Mädchen und Jungen (www.fenestra-projekt.de) und Lehrbeauftragte an der Kath. Stiftungsfachhochschule München, Abt. Benediktbeuern. Ihr Auftrag war es zunächst, den Prozess der Einführung einer Struktur zur Vermeidung von Kindeswohlgefährdung zu begleiten und ihr Fachwissen einzubringen. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit wurde im Mai 2007 ein Konzept erarbeitet, das den Grenzen wahrenden Umgang von Mitarbeitern des Albert-Schweitzer-Familienwerks gegenüber den anvertrauten Kindern und Jugendlichen in den Einrichtungen gewährleisten soll. Mit der Diskussion und Umsetzung des Konzeptes wurde unverzüglich begonnen. Die individuelle Anpassung, die Einführung und Umsetzung von strukturellen Rahmenbedingungen, wurde gemeinsam mit den zwei weiteren „insoweit erfahrenen Fachkräften zur Abschätzung des Gefährdungsrisikos“ im Albert-Schweitzer-Familienwerk und den drei Bereichsleiterinnen sowie dem Geschäftsführenden Vorstand besprochen, beschlossen und eingeführt. Es sollte deutlich nach innen und auch nach außen signalisiert werden: Wir haben in unserer Einrichtung Leitlinien geschaffen und in unser Gesamtkonzept integriert. Sie stehen dafür, dass wir auf einen Grenzen wahrenden Umgang mit den uns anvertrauten Kindern achten. Wir haben Regeln und Vorsichtsmaßnahmen geschaffen, die auf das Wohl der Kinder und Jugendlichen ausgerichtet sind und die auch dem Schutz unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor ungerechtfertigtem Verdacht dienen. Entscheidend bei der Einführung war, dass eine bewusste Haltung und Motivation aller Beteiligten für einen Grenzen wahrenden Umgang geschaffen und gefördert wird. Es ist Aufgabe der Leitung, im Team einer Einrichtung, ein Bewusstsein für die Problematik zu wecken und die Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit eines Grenzen wahrenden Umganges und die Schaffung eines Regelwerkes deutlich zu machen. Es geht nicht um statische Verhaltensnormen, sondern um das Bewusstsein der eigenen Machtposition, die vielfältige Missbrauchsgefahren in sich birgt. Die Regeln müssen das gesamte Team einer Einrichtung erfassen, sollten jedoch nicht eine unverstandene, künstliche Distanz zu Kindern schaffen, sondern ein wohlwollendes, pädagogisches Klima fördern. Nicht nur die pädagogischen, sondern auch die hauswirtschaftlichen, technischen, usw. Mitarbeiter sind eingeschlossen.

Unter anderem werden folgende konkrete Maßnahmen im Albert-Schweitzer-Familienwerk umgesetzt:

1. Bereits im Vorstellungsgespräch mit potentiellen Mitarbeitern wird die Grundhaltung der Einrichtung zu dem Thema Grenzen wahrender Umgang deutlich hervorgehoben. Die Fachwelt weiß, dass Täter sexueller Gewalt an Mädchen und Jungen sich bevorzugt Arbeitsfelder aussuchen, die ihnen die Möglichkeit geben, mit Kindern zusammen zu sein. Täterstrategien machen dies deutlich und sind vielfach in der einschlägigen Fachliteratur aufgezeigt. Es geht hier auch darum, potentielle Täter von vornherein zu warnen und abzuschrecken. Darüber hinaus soll auch die Haltung der Einrichtung deutlich gemacht werden, die auch der Sicherheit des Personals dient und die Qualität der pädagogischen Arbeit hervorhebt. Die Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses ist wie bei allen Trägern obligatorisch.

2. Qualifizierung von Mitarbeitern: Im Rahmen des Einführungswochenendes für neue Mitarbeiter werden alle Themen im Zusammenhang mit dem § 8 a SGB VIII besprochen und die Haltung im Albert-Schweitzer-Familienwerk thematisiert sowie die Struktur der Umsetzung geklärt. Durch Erarbeitung von professionellen Handlungsschritten anhand konkreter Fallschilderungen und Grundlagenwissen zum Thema (sexuelle) Gewalt und Vernachlässigung wird das Wissen der Mitarbeiter vertieft und erweitert.

3. Regelmäßiges Teamthema: In Abständen von ca. 6 Monaten finden in den jeweiligen Einrichtungen Fachgespräche unter Leitung der Beauftragten nach § 8a SGB VIII mit dem Team statt, die sowohl Fallbearbeitungen als auch die Optimierung der fachlichen Qualifizierung zum Inhalt haben. Dabei wird auch explizit thematisiert, ob es innerhalb des Teams oder des AlbertSchweitzer-Familienwerks Mitarbeiter gibt, bei denen es Zweifel an deren Haltung gegenüber Kindern und auch Erwachsenen sowie Kollegen gibt. Das ist jeweils eine heikle Fragestellung, die aber wesentlich und essentiell für die Prävention in den Teams ist. Die Beweggründe zu dieser Fragestellung wurden ausführlich erläutert und sind den Mitarbeitern vertraut. Die ersten Erfahrungen zeigen, dass die Mitarbeiter mit der Situation gut umgehen können, da insgesamt neben dem Schutz der Kinder auch immer der Schutz der Mitarbeiter und der Einrichtung im Fokus stehen.

4. Telefonkonferenzen: Circa zweimal jährlich finden Telefonkonferenzen zwischen dem Geschäftsführer und den insoweit erfahrenen Fachkräften zur Abklärung anstehender Fragen statt. Die Fragen zielen darauf, ob es Anhaltspunkte zu erkennen gibt, die eine Gefährdung unserer Kinder und Jugendlichen innerhalb und außerhalb unserer Institution befürchten oder erkennen lässt und welche weiteren Schritte hinsichtlich unserer struktureller Maßnahmen erfolgen sollen. In der Besprechung werden konkrete Schritte geplant und deren Einhaltung gemeinsam überprüft sowie Erfahrungen ausgetauscht.

5. Kummerkasten und Beschwerdewesen: In den Einrichtungen gibt es jeweils einen Kummerkasten, in den die Kinder ihre Nöte auch in schriftlicher Form hinterlegen können. Der Kummerkasten wird von den Fachdienstmitarbeitern regelmäßig geleert. Wenn sich aus den Schreiben eine Not hinsichtlich des Grenzen wahrenden Umgangs ergibt, werden diese je nach Situation und Kontext mit dem Team, dem Mitarbeiter oder/und der Leitung besprochen.

6. Aufklärung der Kinder: Im Zusammenhang mit dem Kummerkasten werden die Kinder auch über ihre Rechte aufgeklärt. Dies wird regelmäßig wiederholt.

Um nach innen und außen zu dokumentieren, in welcher Haltung wir mit den uns anvertrauten Kindern und Jugendlichen umgehen, wurden folgende Textpassagen erarbeitet. Diese finden sich in unseren Konzeptionen, Leistungsbeschreibungen und in den Arbeitsverträgen wieder:

1. Für die Konzeption: Unsere Mitarbeiter haben ein besonderes Augenmerk auf einen Grenzen wahrenden Umgang mit den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen. Durch klare Strukturen, verbindliche Zuständigkeiten und offene Kommunikation auf allen Ebenen können Grenzverletzungen leichter gesehen und verhindert werden.

2. Für die Leistungsbeschreibung: Ein besonderes Augenmerk legen wir auf einen Grenzen wahrenden Umgang in unseren Einrichtungen. Dies beinhaltet die Prävention von körperlicher, seelischer und sexueller Gewalt sowohl der Kinder und Jugendlichen untereinander als auch gegenüber Mitarbeitern und von Mitarbeiterseite gegenüber den Kindern und Jugendlichen. Gewalttätiges und übergriffiges Verhalten wird nicht geduldet oder toleriert. Aufklärung zu diesem Thema ist Standard in unserer Einführungsfortbildung für neue Mitarbeiter und in den Teambesprechungen.

3. Für das Anschreiben zum Arbeitsvertrag Besonders möchten wir noch betonen, dass wir uns zur Einhaltung einer professionellen Distanz, sowie eines Grenzen wahrenden Umgangs gegenüber den Kindern und Jugendlichen verpflichtet fühlen. Körperliche, seelische, sexuelle Gewalt sowie Vernachlässigung der Kinder und Jugendlichen wird vom Träger nicht geduldet oder toleriert. Alle im Albert-SchweitzerFamilienwerk Tätigen verpflichten sich, eindeutige Grenzüberschreitungen von Kollegen gegenüber den Kindern und Jugendlichen der Leitung oder einem von der Leitung benannten, unabhängigen Fachdienst zu melden. Wir weisen auf diesen Punkt besonders hin, weil es uns ein Anliegen ist nach innen und nach außen zu dokumentieren, dass wir unser Augenmerk darauf richten, die Kinder, die Mitarbeiter und das Albert-Schweitzer-Familienwerk zu schützen.

4. Für den Arbeitsvertrag: Der Mitarbeiter verpflichtet sich zur Einhaltung einer professionellen Distanz, sowie eines Grenzen wahrenden Umgangs gegenüber den Kindern und Jugendlichen. Körperliche, seelische, sexuelle Gewalt sowie Vernachlässigung gegenüber den Kindern und Jugendlichen wird von der Einrichtung nicht geduldet oder toleriert. Der Mitarbeiter verpflichtet sich, eindeutige Grenzüberschreitungen von Kollegen gegenüber den Kindern und Jugendlichen, der Leitung oder einem von der Leitung benannten unabhängigen Fachdienst zu melden.

Insgesamt kommt es aus unserer Sicht bei dem Thema Grenzen wahrender Umgang auch zentral auf die Offenheit und Transparenz in einer Einrichtung an. Nur wer ein offenes und ehrliches, von gegenseitiger Wertschätzung geprägtes Klima zwischen Leitung und Mitarbeitern sowie unter Kollegen in den Teams fördert und erreicht, kann auch ein solches in Bezug auf den Umgang mit den Kindern und Jugendlichen erwarten. Klare Zuständigkeiten in der Institution, gepaart mit einer offenen und gleichzeitig kritischen und auch liebevollen Atmosphäre schaffen die Basis für einen Grenzen wahrenden Umgang miteinander. Wir sind uns durchaus bewusst, dass sich aus unserer Strategie keine Garantie dafür ableiten lässt, dass „nichts passiert“. Gleichzeitig sind wir davon überzeugt, dass unsere Maßnahmen der Prävention einen positiven Beitrag für unsere Kinder, unsere Mitarbeiter und unsere Institution leisten.

Sie können sich bei Bedarf gerne bei unseren Textbausteinen „bedienen“. Wenn Sie dieses Schreiben weitergeben wollen, können Sie das ebenfalls gerne tun. Bitte informieren Sie uns darüber jeweils vorab und nennen die Quelle.