„Oft mussten die Kinder nur funktionieren“

Axel Curschmann und seine Frau arbeiten seit zehn Jahren als Kinderdorfeltern in der Nähe von Nürnberg. Sie leben mit sechs Kindern zwischen 7 bis 16 Jahren, von denen viele in ihren Elternhäusern Gewalt und Vernachlässigung erlebt haben, unter einem Dach. Im Interview beschreibt Curschmann, mit welchen Schwierigkeiten Kinder, deren Rechte im frühestens Kindsalter nicht geachtet wurden, zu kämpfen haben und mit welchen Maßnahmen das Kinderdorf zu helfen versucht.

Welche Rechte sind in Ihrem Alltag mit den Kindern am präsentesten?
Curschmann: Das Recht auf Privatsphäre und Schutz vor körperlicher Gewalt sind sehr präsent. Auch weil es unseren Kinder oft nicht leicht fällt, diese Rechte anderen zuzugestehen. Viele von den Kindern haben zuhause Gewalterfahrungen gemacht, das soll jetzt nicht mehr passieren. Aber manchmal passiert es dann doch. Auch das Recht auf Privatsphäre spielt bei uns eine große Rolle. Das bedeutet zum Beispiel, ich gehe nur in ein Zimmer, wenn es sein muss. Einige Kinder können das nicht verstehen, weil sie es zuhause nicht gelernt haben.

Wie gehen Sie damit um?
Curschmann: Probleme im Gruppenverhalten besprechen wir regelmäßig, zum Beispiel wenn jemand in ein anderes Zimmer gegangen ist, etwas rausgenommen oder kaputt gemacht hat. Wir haben eine wöchentliche Kinderkonferenz, in der wir besprechen, was es aktuell für Themen und Probleme gibt. Wir sprechen an, was läuft und was nicht läuft. Und auch die Kinder sprechen an was sie untereinander bewegt. Oft kommt eine sehr intensive Diskussion zustande. Bei einem Teil der Kinder funktioniert es dann, bei anderen passiert es trotzdem wieder.

Wie erklären Sie sich das, tun Kinder, deren Rechte bereits einmal massiv verletzt wurden, sich schwerer damit, die Rechte anderer zu achten?
Curschmann: Das kann man nicht verallgemeinern. Aber viele kommen aus Elternhäusern, in denen es keine große Rolle spielte, was ein Kind für Rechte hat. Meine Erfahrung ist, dass Kinder, deren Rechte früh nicht geachtet wurden, später auch selber erst lernen müssen, die Rechte anderer zu achten. Das Thema fängt ganz früh an.

Wie äußert es sich noch, wenn zum Beispiel das Recht auf Fürsorge, im frühen Kindesalter verletzt wird?
Curschmann: Die Kinder brauchen sehr viel Aufmerksamkeit, bekommen eigentlich nie genug. Ich bin überzeugt, das kommt aus der vorherigen Rechteverletzung. Oft mussten die Kinder nur funktionieren. Alles Persönliche zurückhalten, damit sie geliebt werden. Ein Kind dessen recht permanent verwehrt wird, kann kein Selbstbewusstsein entwickeln. Es wendet sich gegen das System. Sie haben echt Probleme sich auf persönliche Bindungen einzulassen.

Finden Sie, dass Kinderrechte in die Verfassung gehören?
Curschmann: Diese Frage stellt sich für mich nicht. Vom Augenblick der Geburt ist der Mensch etwas Besonderes. Wer gibt den Erwachsenen das Recht zu bestimmen, was Recht ist und was nicht? Kinderrecht ist Menschenrecht.

Das Interview führte Hanna Irabi, Öffentlichkeitsarbeit, Bundesverband Albert-Schweitzer-Kinderdörfer und Familienwerke